Die kleine hässliche Piroschka
(Auszug)
 

Sie war dürr, terriergroß, stockhaarig, dreifarbig und der hässlichste Hund, der mir je begegnet ist. Ein runder, kleiner Kopf mit einer winzigen Schnauze wurde durch breite, hochstehende Löffelohren gekrönt. Die langen Vorderpfoten waren stämmig, solide. Die Hinterläufe aber waren dünn, zierlich und krumm nach innen gewachsen. Dadurch lief die Hündin immer etwas hoppelig. Vermutlich hatte bei ihren Ahnen ein Pekinese mitgemischt, denn ihre übergroßen, runden Augen quollen ihr schier aus dem Kopf und gaben ihr einen leicht penetranten Gesichtsausdruck, zumal sie zusätzlich gerne die Lefzen kräuselte, um eventuelle Feinde abzuwehren. Vielleicht, um den Hund wenigstens noch etwas zu retuschieren, hatten die Vorbesitzer Lillys Schwanz an der Wurzel kupiert. Sie hatte also nicht einmal mehr einen Schwanzstummel, mit dem sie hätte wedeln können.

 

Ich traf Lilly am Plattensee in Ungarn oder besser gesagt, sie traf uns. Sie gehörte niemandem, bettelte sich von Badegast zu Badegast und saß so eines Tages mit ihren herausfordernden Quellaugen und den Löffelohren auch auf meinem Handtuch. Ich gab ihr etwas von meinem Brot ab, und meine Mutter streichelte sie. Beides war ein Fehler, denn nun blieb Lilly. Sie verfolgte meine Mutter und mich beim Baden. Sie sah aufmerksam zu, wie wir uns abtrockneten. Sie ging ganz selbstverständlich neben uns, als wir zum großen Spaziergang aufbrachen. Meiner Mutter und mir schwante Fürchterliches.

 

Ich konnte keinen neuen Hund gebrauchen. Zu Hause wartete die starke Wanja wohlbehütet bei Freunden auf mich. Mit einer älteren Hündin, wie Lilly es war, hätte sie sich nie angefreundet. Wanja benahm sich überall wie ein Platzhirsch und verteidigte ihre Rechte mit spitzem Zahn. Meine Mutter konnte den Hund auch nicht übernehmen, weil sie arbeitete. Wehret den Anfängen, sagten wir uns und scheuchten die aufdringliche kleine Piroschka, von uns Lilly genannt, entschlossen davon. Lilly ließ sich auch gut fortjagen, aber als wir nach einer Weile hinter uns blickten, war sie wieder sichtbar, hoppelte auf uns zu, weil wir stehenblieben. Jetzt warf ich sogar mit Steinen nach ihr. Lilly wahrte den Sicherheitsabstand und folgte unverdrossen unserer Spur.

 

Drei Stunden lang gingen wir unfreiwillig spazieren, immer in der Hoffnung, den Hund endlich loszuwerden. Schließlich besuchten wir ein Lokal, erwarteten, unsere Verfolgerin damit endgültig abzuschütteln. Wir mussten nur recht lange in dem Lokal bleiben, das würde ihr das Warten schon verleiden. Wir tranken einen Mokka nach dem andern, spähten immer wieder ängstlich nach draußen. Lilly saß vor der Tür und wartete mit spitzen Ohren. Wir aßen noch ausgiebig zu Mittag, um Lillys Geduld zu zermürben. Umsonst. Sie saß da draußen wie ein Denkmal und tat so, als gehörte sie zu uns.

 

Mein letzter Versuch, den Hund zu vertreiben, hätte jeden Tierfreund empört. Ich nahm mir eine dicke Zeitung, schoss wie eine Rakete aus der Tür heraus, brüllte die entsetzt aufquiekende Lilly an und warf ihr die Zeitung vor die Pfoten. Der Angriff gelang. Lilly floh und blieb verschwunden. 

Meine Mutter und ich machten uns erleichtert auf den Heimweg. Nach zwei Stunden waren wir am Parkplatz, fanden unter den 500 Autos endlich meinen kleinen grauen Volkswagen wieder und erstarrten: Vorne rechts an der Fahrertür lag Lilly zur Schnecke zusammengerollt und schlief. „Nein", entfuhr es meiner Mutter und mir mit einer Stimme. Lilly wachte auf, erblickte uns und sprang mit einem gewaltigen Satz auf uns zu. Sie war außer sich vor Freude, hüpfte an uns hoch, jippte mit einer grellen Piepsstimme, hoppelte ausgelassen um uns herum. Dann lief sie zur Fahrertür, setzte sich hin und glotzte uns an. Wir gaben auf. 

Mit Lilly auf dem Hintersitz erreichten wir das kleine Ferienhaus. Mit Lilly auf den Fersen gingen wir den Tag darauf zur Kurverwaltung, zum Fremdenverkehrsamt, zum Bademeister. Überall hörten wir das Gleiche. Den Hund kenne man. Er sei hier seit sieben Wochen, vermutlich ausgesetzt. Er gehöre niemandem. Noch ernährten ihn ja die Touristen, aber dann ...
 

Mit der quelläugigen Lilly verbrachten wir die letzten drei Ferientage am Plattensee. Mit dem Hund auf dem Rücksitz fuhren wir über die ungarische Grenze in Richtung Heimat. Inzwischen war sie gefüttert, gebadet, gekämmt und zähneknirschend wohlgelitten. Nicht wir hatten sie aufgenommen, sondern sie hatte uns adoptiert. Sie lief nicht fort, sie verlor sich nicht im Getümmel der tausend anderen Urlauber. Sie blieb immer ganz dicht bei uns, ließ uns nicht mehr aus den Augen. Sie war lieb, zärtlich und versessen darauf, uns zu gefallen. Ihre größte Angst war, wieder ausgesetzt zu werden. Deshalb weigerte sie sich grundsätzlich, das Auto zu verlassen. Nur wenn beide ausstiegen, kam auch sie mit, stets ängstlich darauf bedacht, uns mit der Nase genau auf den Fersen zu bleiben. Verzweiflung und Furcht packte sie, wenn meine Mutter oder ich alleine fortgingen. Musste sie im Hotelzimmer bleiben, während meine Mutter und ich im Gastraum frühstückten, drehte sie völlig durch. Unsere Mahlzeit begleitete das schrille Angst- und Protestgeheul der im Zimmer eingesperrten Lilly.

 

Aber das alles war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass wir beide jetzt einen Hund hatten, den wir nicht behalten konnten. ....