Erna, ein großer trauriger Hund
(Auszug)
 

In Erna hatten sich Boxer, Jagdhund und Schnauzer ein Denkmal gesetzt. Das waren die Hunderassen, die man aufgrund ihres Aussehens und Verhaltens zurückverfolgen konnte. Weitere Rassevermutungen blieben verschwommen, gaben Stoff zu kühnen Spekulationen. Vom Tibetterrier über den Saluki bis hin zum Irischen Wolfshund wurde mir in nicht enden wollenden Hundegesprächen auf den Parkwiesen eine abenteuerliche Ahnentafel angeboten. Mitunter gab es sogar Streit, wenn jene, die einen Setter besaßen, in Erna einen Setter wieder erkannten, während die stolzen Besitzer des schmalbrüstigen Saluki eben diesen in meinen armen Hund hineinmendelten.

 

Mir war Ernas Herkunft gleichgültig, die erregten Diskussionen fade. Dieser Hund war so gemischt, dass sich jede Auseinandersetzung erübrigte. Erna war groß und schlank, ihr Fell pechschwarz und stockhaarig, über Hinterkopf, Augenbrauen und am Maul lustig gebüschelt. Ein weißes Pastorenbeffchen zierte ihre breite Brust. Den Schwanz trug sie leicht nach unten eingerollt, wenn sie nicht gerade Angst hatte und ihn peinvoll einklemmte. Meistens hatte sie Angst. Die Pfoten waren sehr zierlich und hatten lange, schmale Zehen. Nie trat sie mit diesen Pfoten breit und flächendeckend auf. Sie setzte sie stattdessen vorsichtig, fast zögernd. Ihre Bewegungen waren so graziös, dass ich vermute, dass sie in der Wiener Hofreitschule bei den Lipizzanern laufen gelernt hatte. Sie tänzelte, wiegte jeden Schritt nach, verhielt lauschend mit angehobenem Vorderlauf, wenn es eine Situation zu prüfen galt. Wo Maxie behäbig mit nach links und rechts schwankendem Langrücken latschte, schritt Erna mit gravitätisch hocherhobenem Kopf. Wo Maxie mit schweren Knochen und breiten Pfoten angestrengt trabte, legte Erna eine Gangart vor, bei der alle vier Pfoten sekundenlang in der Luft schwebten, bevor sie zwei von ihnen eher auftippend als aufsetzend kurz zur Erde zurückbrachte und für den Schwung der nächsten Schritte einsetzte.

 

So laufend, war sie ein durch und durch edler Hund, wenn nur dieser Kopf nicht gewesen wäre. Für den hatte Vater Boxer gesorgt. Erna erbte seinen breiten Schädel und seine platte, eingedetschte kurze Schnauze mit der vorgeschobenen Unterlippe. Auch Erna sah mit diesem Maul aus, als sei sie mit einer Geschwindigkeit von einhundert Stundenkilometern frontal an eine Gusseisenplatte gerannt. Die Haltung der schwabbeligen Lefzen variierte sie. Die eine winkelte sie zu einer Seite an, die andere hing grundsätzlich schlaff über dem mächtigen Kiefer. So sah Erna schiefmäulig aus und wirkte leicht depressiv, zum Mitleiderwecken. Die Augen taten ihr übriges: Riesengroß, fast glotzig sahen sie in die Welt. Wenn Erna mit diesen Augen unter den frechen Haarbüscheln glubschte, aufmerksam die kurzen Ohren nach vorne klappte, ihren runden Schädel schrägstellte, blieben fremde Menschen sofort stehen, zerflossen vor Rührung: „Ist der aber niedlich, er guckt wirklich süß".

Erna war alles andere als niedlich und süß, sie war allgemeingefährlich. Sie kam aus dem Obdachlosenasyl, war von Tierschützern dort fortgeholt worden. Sie gehörte angeblich keinem und biss vorsichtshalber jeden, der in ihre Nähe kam. Das wusste ich nicht, als ich sie mir im Tierheim unter all den vielen Hunden ausguckte und mitnahm. Sie sah so niedlich aus mit den kessen Haarbüscheln an Hinterkopf und Schnauze, zugleich so erbarmungswürdig traurig mit ihren großen Augen und dem schiefen Maul. Dass sie beim Anleinen im Tierheim knurrte und ängstlich vor mir zurückwich, verbuchte ich als positives Zeichen von Charakterstärke. Kein anständiger Hund lässt sich von einem wildfremden Menschen an die Leine nehmen und entführen.

 

Zu Hause mit meiner Neuerwerbung, zündete ich mir erst einmal eine Entspannungszigarette an. Erna, die rasch begriffen hatte, dass es sich hier um ihr neues Zuhause handelte und intensiv jede Ecke, jede Wand der großen Wohnung abgeschnüffelt hatte, heulte auf und verkroch sich unterm Tisch. Dort hockte sie mit Panik im Blick und verfolgte jede meiner Bewegungen. Ich wusste nicht, was ich von der Sache halten sollte. War die etwa auch hysterisch wie Maxie? Doch sie beruhigte sich bald wieder und setzte ihre Schnüffelaktion fort. Der Angstanfall wiederholte sich bei der nächsten Zigarette, die ich mir ahnungslos anzündete. Langsam begriff ich, wollte es aber genau wissen. Nach einer angemessenen Pause zündete ich mir die dritte Zigarette des Tages an und ging damit langsam auf Erna zu. Mit einem Satz war sie unter dem Tisch, zog sprungbereit die Hinterläufe unter den Körper, flappte die Ohren an und knurrte so bedrohlich, dass ich mich sofort wieder in meinen Sessel setzte und die Zigarette löschte. Die vier kreisrunden, pfenniggroßen Narben in ihrem Fell waren mir rätselhaft gewesen. Nun wusste ich Bescheid. Ihre Vorbesitzer hatten sie mit glühenden Zigarettenkippen gequält.

 

Wie schlimm darüber hinaus dieser Hund geschädigt war, merkte ich beim nächsten Zwischenfall, der sich vier Stunden später abspielte.....